Vorfreude auf das Schachspiel bei Puls 200 in der Berliner Heimat
Als das Velodrom in Berlin gebaut wurde, ging Andreas Müller noch zur Schule. Nur unweit vom Radstadion an der Landsberger Allee ist er aufgewachsen: am Prenzlauer Berg. Bei der Fertigstellung des Velodroms 1996 bekam der damalige Nachwuchssportler sogar schulfrei, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. 24 Jahre später warten auf den Berliner, der seit 2008 für das Österreichische Nationalteam startet, nun die ersten Heimweltmeisterschaften, die insgesamt 18. in Müllers langer Karriere.
"Meine Grundschule liegt gerade 500 Meter vom Velodrom entfernt, von mir zuhause ist es ein Kilometer. Ich freue mich schon auf die HM, die vor meiner Haustüre stattfindet", berichtete der 40-Jährige, der seit 2008 für den Österreichischen Radsportverband fährt und über einen deutschen und einen österreichischen Pass verfügt. Bei der letzten WM in Berlin musste er als 19-Jähriger noch zusehen, die Bahn kennt er aber gut. 20 Mal in Folge nahm er an den Sixdays teil, zuletzt an der Seite von Andreas Graf, mit dem er auch den Madisonbewerb am 1. März, dem finalen Tag der Großveranstaltung, bestreiten wird.
"Natürlich bin ich oft dort schon gefahren, aber eine WM ist halt eine WM und immer etwas Besonderes", freute sich der Bahnspezialist, der seit knapp drei Jahren auch als Sportlicher Leiter der Österreichischen Nationalmannschaft fungiert. Mit Scratch gewann Müller 2008 Bronze, fünf Jahre später sogar Silber. Auch sein Partner kennt das Zelebrieren einer Medaille. Graf wurde 2016 Vizeweltmeister im Punktefahren. Gemeinsam wurde das Duo 2014 im Madison Europameister. Doch das Podium ist in Berlin nicht das große Ziel der beiden.
"Nach derzeitigem Stand wären wir für die Olympischen Spiele 2020 qualifiziert. Diese Position gilt es nun bei der WM zu verteidigen", erklärte Müller, in dessen Heimatstadt nun die letzten Punkte im Qualifikationsranking vergeben werden. "Die Spiele sind sicherlich das alles überragende Event in unserem Sport und es ist ein riesiges, sportliches Ziel", fügte er an. 2004 in Athen qualifizierten sich das letzte Mal rot-weiß-rote Athleten für die Spiele, nun ist das Duo Graf/Müller am besten Weg nach Tokio: "Das wäre schon ein Riesending, wenn wir das in Berlin fixieren könnten."
Routine soll Qualiplatz für Tokio absichern
Sowohl in London 2012 als auch in Rio de Janeiro 2016 war das Madison nicht im Olympischen Programm. 2020 feiert das spektakuläre Zweier-Mannschaftszeitfahren sein Comeback. "Es ist meine absolute Lieblingsdisziplin. Ein Rennen ist sehr komplex, es ist wie Schach bei Puls 200", erzählte Müller und fügte an: "Am Madison mag ich die taktische Komponente. Es geht nicht um die Watt, die man drücken kann sondern um das pure Rennverständnis. Du musst viele Züge vorausdenken und Antizipieren, was die Gegner machen könnten. Dauernd spielst du im Kopf die Szenarien durch und musst dazu die richtige Taktik und Strategie finden."
Für das österreichische Duo spricht vor allem die jahrelange Erfahrung, seit zwölf Jahren zählen sie zur Weltspitze im Zweier-Mannschaftszeitfahren. "Du kennst die Körperbewegungen des anderen, weißt was er vorhat. Wir sind wirklich aufeinander eingespielt", so Müller, der mit Graf einen ähnlichen Fahrertyp an seiner Seite hat. Vor allem die von der Taktik geprägten Rennen kommen dem Duo entgegen.
Beim Madison bilden zwei Fahrer einer Nation ein Team. Insgesamt gilt es 200 Runden, also 50 Kilometer zu absolvieren, wobei sich die Fahrer ständig ablösen, diese Wechsel aber nach beliebig gefahrener Distanz erfolgen können. Mittels Schleudergriff erfolgt die Ablöse und so ist immer ein Fahrer des Teams im Rennen aktiv: "Das heißt aber nicht, dass der andere wirklich pausieren kann. Du musst dann das Rennen und die Gegner beobachten und den wieder gewonnenen Sauerstoff nutzen zum Nachdenken. Denn bei Puls 200 kannst du kaum einen klaren Gedanken fassen."
"Wir haben gute Chance"
Nach ihrem gemeinsamen Einsatz bei den Sixdays vor einem Monat ging es für das österreichische Duo nach Mallorca, wo sie sich bei angenehmeren Temperaturen auf die WM vorbereiten. Das Ergebnis steht aber angesichts des Kampfes um ein Olympiaticket nicht im Vordergrund. "Wir müssen in Berlin unseren Platz im Ranking verteidigen, also auf jene Mannschaften aufpassen, die hinter uns liegen", erzählte Müller.
Damit wartet für die rot-weiß-rote Paarung ein fast schon eigenes Rennen im WM-Rennen. "Es wird komplex, da es viele Rechenvarianten gibt, aber am wichtigsten wird sein, vor unseren Verfolgern zu landen. Wir sind ein routiniertes Team, das weiß, wie man diese Taktik ausspielen kann. Das sollte uns in Berlin entgegenkommen", erläuterte Müller die Ausgangslage vor dem letzten Qualifikationsrennen vor Tokio.
"Wir haben gute Chancen und der Druck liegt bei unseren Gegnern. Der Rest entscheidet sich dann im Rennen, aber es wäre ein besonderes Highlight, das wir uns erfüllen könnten. Und einen viel besseren Platz als Berlin dafür, könnte ich mir nicht vorstellen", blickte Müller voraus und fügte schmunzelnd an: "Und der Faktor, dass ich Zuhause schlafen kann, schadet sicher auch nicht."